Die Anwendung des Barrierefreiheitsgesetzes in Österreich
Barrierefreiheit ist längst kein Nischenthema mehr, sondern eine zentrale Voraussetzung für eine inklusive Gesellschaft. In Österreich bilden das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG), das Behinderteneinstellungsgesetz (BeinstG) gemeinsam mit europäischen Vorgaben wie der EU-Richtlinie 2019/882 („European Accessibility Act“) die rechtliche Grundlage für die Durchsetzung von Barrierefreiheit. Insbesondere durch die Umsetzung letztgenannter EU-Richtlinie wurde der bestehende Rechtsrahmen in Österreich erweitert. Die Richtlinie wurde in Österreich durch das sogenannte Barrierefreiheitsgesetz, welches im Wesentlichen seit Juni 2025 anwendbar ist, in nationales Recht umgesetzt. Dieser Artikel beleuchtet die wesentlichen Inhalte, Anwendungsbereiche sowie die praktischen Herausforderungen für betroffene Unternehmen.
Rechtlicher Rahmen
Das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz trat bereits 2006 in Kraft und verfolgt das Ziel, Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen oder zu verhindern. Barrierefreiheit wird darin als Zustand definiert, in dem bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung sowie andere Lebensbereiche für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.
Das neue Barrierefreiheitsgesetz, das die Vorgaben des European Accessibility Act umsetzt, präzisiert diese Bestimmungen und erweitert sie insbesondere auf den digitalen Bereich und auf wirtschaftlich relevante Dienstleistungen. Es gilt für Unternehmen, die Produkte oder Services am Markt bereitstellen, etwa im Bereich Online-Handel, Bankdienstleistungen oder Telekommunikation.
Anwendungsbereiche
Das Barrierefreiheitsgesetz betrifft eine Vielzahl von Bereichen, die für das tägliche Leben zentral sind. Zu den wichtigsten zählen:
1. Digitale Dienstleistungen und Produkte
- Webseiten, mobile Anwendungen und Software müssen barrierefrei gestaltet sein.
- Online-Shops sind verpflichtet, Produkte so anzubieten, dass Menschen mit Behinderungen sie selbstständig nutzen können.
- Elektronische Kommunikationsdienste (z. B. Telefonanbieter, Internetprovider) unterliegen denselben Anforderungen.
2. Bank- und Finanzdienstleistungen
- Bankautomaten, Online-Banking-Plattformen und Zahlungsdienste müssen barrierefrei zugänglich sein.
- Ziel ist es, Menschen mit Sehbehinderungen, Hörbehinderungen oder motorischen Einschränkungen einen gleichberechtigten Zugang zu gewährleisten.
3. E-Books und Lesegeräte
- Digitale Publikationen und die entsprechenden Lesegeräte sollen so gestaltet sein, dass auch blinde oder sehbehinderte Personen sie nutzen können.
- Dies umfasst die Kompatibilität mit Screenreadern oder die Möglichkeit zur Anpassung von Schriftgrößen und Kontrasten.
4. Verbraucherrechte und Vertragsinformationen
- Unternehmen müssen sicherstellen, dass vorvertragliche Informationen (z. B. Vertragsunterlagen, AGB) barrierefrei zugänglich sind.
- Dies betrifft sowohl digitale als auch analoge Kommunikationsformen.
5. Bauliche Infrastruktur
- Auch wenn der Schwerpunkt des neuen Gesetzes auf digitalen Dienstleistungen liegt, bleiben die Bestimmungen zur Barrierefreiheit in Gebäuden, im öffentlichen Verkehr und in anderen physischen Umgebungen weiterhin relevant.
- Der Abbau architektonischer Barrieren bleibt eine Kernaufgabe.
In Anlage 1 des Barrierefreiheitsgesetzes findet sich eine detaillierte Aufschlüsselung, welche Voraussetzungen für Produkte oder Dienstleistungen erfüllt sein müssen, damit diese als „barrierefrei“ gelten. Für die Praxis relevant ist weiters, dass das Gesetz eine Konformitätsvermutung vorsieht. Das bedeutet, dass Produkte oder Dienstleistungen, die im Einklang mit EU-Normen stehen, als barrierefrei im Sinne dieses Gesetzes gelten, sofern sich die Vorgaben der Norm auf die im Barrierefreiheitgesetz gestellten Vorgaben erstrecken. Es ist davon auszugehen, dass auf Unionsebene an der Gestaltung europaweit einheitlicher Normen für genau diesen Fall gearbeitet wird.
Ausnahmen und Übergangsfristen
Nicht alle Unternehmen sind gleichermaßen betroffen. Für Kleinstunternehmen – das sind Unternehmen, die weniger als 10 Personen beschäftigen und deren Jahresumsatz oder Jahresbilanzsumme höchstens EUR 2 Mio beträgt – gelten Erleichterungen:
- Kleinstunternehmen, die nur Dienstleistungen anbieten, sind von den Anforderungen des Barrierefreiheitsgesetzes ganz ausgenommen
- Kleinstunternehmen, die Produkte herstellen, importieren oder verkaufen sollen vereinfachten Anforderungen unterliegen. Dafür sollen von den zuständigen Bundesministerien in naher Zukunft Leitlinien erlassen werden.
Das Gesetz schreibt zudem vor, dass die Barrierefreiheitserfordernisse dann nicht einzuhalten sind, wenn dies eine „unverhältnismäßige Belastung“ für das betroffene Unternehmen darstellen würde. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Einhaltung zu einer grundlegenden Veränderung des Produkts oder der Dienstleistung – das heißt, wenn der ursprüngliche, intendierte Zweck des Produkts oder der Dienstleistung nicht mehr erreicht wird – führen würde. In Anlage 4 des Gesetzes sind weitere Kriterien zur Beurteilung der unverhältnismäßigen Belastung normiert, zB. wenn die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen eine zusätzliche übermäßige organisatorische bzw. finanzielle Belastung für das Unternehmen darstellen würde.
Die meisten Bestimmungen treten am 28. Juni 2025 in Kraft. Für bestimmte Produkte (z. B. Geldautomaten oder Selbstbedienungsterminals) gelten längere Übergangsfristen von bis zu 20 Jahren, um technische Anpassungen zu ermöglichen.
Durchsetzung und Kontrolle
Die Einhaltung des Barrierefreiheitsgesetzes wird in Österreich durch mehrere Mechanismen sichergestellt:
- Beschwerdemöglichkeiten: Betroffene können beim Sozialministerium oder über die Schlichtungsstelle nach dem Bundesbehindertengleichstellungsgesetz Beschwerden einbringen.
- Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz: Personen, die sich aufgrund mangelnder Barrierefreiheit benachteiligt fühlen, können Schadenersatzansprüche geltend machen.
- Marktüberwachung: Das Sozialministeriumservice als zuständige Behörde prüft, ob Produkte und Dienstleistungen die gesetzlichen Anforderungen erfüllen. Bei Verstößen drohen Verwaltungsstrafen und der Entzug von Genehmigungen. Für mittlere und Kleinstunternehmen gilt ein niedrigerer Strafrahmen. Zudem hat der Gesetzgeber in der Erläuterungen klargestellt, dass insbesondere bei Erstverstößen der verwaltungsstrafrechtliche Grundsatz „Beraten statt Strafen“ gilt.
Herausforderungen in der Praxis
Die Umsetzung des Barrierefreiheitsgesetzes bringt für viele Unternehmen Herausforderungen mit sich. Vor allem im digitalen Bereich erfordert Barrierefreiheit ein Umdenken in der Gestaltung von Webseiten und Anwendungen. Häufige Probleme sind:
- Fehlende Alternativtexte für Bilder, die Screenreader unbrauchbar machen.
- Komplexe Navigationsstrukturen, die für motorisch eingeschränkte Personen schwer bedienbar sind.
- Videos ohne Untertitel oder Audiodeskription.
- Geringe Kontraste und nicht anpassbare Schriftgrößen.
Für potenziell betroffene Unternehmen ist es essentiell, sich rasch Klarheit darüber zu verschaffen, ob
- sie in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen,
- inwieweit sie aufgrund der Unternehmensgröße ausgenommen sind,
- ob die Ausnahme der unverhältnismäßigen Belastung anwendbar ist und
- inwieweit die angebotenen Dienstleistungen oder Produkte schon den Anforderungen entsprechen bzw. welcher Umsetzungsbedarf besteht.
Fazit
Das Barrierefreiheitsgesetz stellt einen Meilenstein in der österreichischen Rechtsentwicklung dar. Es schließt eine wichtige Lücke zwischen baulicher und digitaler Barrierefreiheit und verpflichtet Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen so zu gestalten, dass sie von allen Menschen genutzt werden können. Während die Umsetzung insbesondere für kleinere Unternehmen eine Herausforderung darstellt, bietet sie zugleich Chancen für eine inklusivere Gesellschaft und eine zukunftsfähige Wirtschaft. Für potenziell betroffene Unternehmen gilt, sich in einem ersten Schritt eine Übersicht zu verschaffen und gegebenenfalls entsprechende Anpassungen vorzunehmen.
Mag. Lorenz Wicho
PwC Legal Rechtsanwälte GmbH
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